Individuelle Förderung

Ringkampf mit einem neumodischen Wort


Ralf Orthey 2006


Individuelle Förderung kann kein Einzelunterricht sein. Einzelunterricht sieht unser Schulsystem nicht vor.
Gelegentlich scheint der Begriff der individuellen Förderung Vorstellungen wach zu rufen, die an den historischen Hauslehrer erinnern und entsprechend optimistische wie auch unrealistische Erwartungen bei Eltern und Bildungspolitikern wecken.

Individuelle Förderung findet während des Unterrichtes im Klassenverband, in einer Teilgruppe oder in der Interaktion mit einzelnen Kindern, in der Vorbereitung des Unterrichts und in der Reflexion des Unterrichts statt.

Der Begriff der individuellen Förderung wird in seiner aktuellen Verwendung gezielt gegen den Begriff Unterricht gesetzt.
Wenn das eine stattfindet, kann das andere nicht stattfinden.
Was aber ist Unterricht, wenn er nicht Förderung ist?
Und wem gilt Förderung, wenn sie nicht einzelnen Kindern zu Gute kommt?
Der Begriff „Unterricht“ – verstanden als Abwesenheit von individueller Förderung - beschreibt also in dieser Polarisierung reine Lehreraktivität, ohne Hinsicht auf Veränderungen in der Zielgruppe, für die der Unterricht veranstaltet wird.

Hier beginnt der pädagogische Diskurs insofern ehrlich zu werden, als man sich offensichtlich des alten, geflügelten Wortes: „Wenn alles schläft und einer spricht, dieses nennt man Unterricht“ besinnt und um entsprechende änderungen bemüht ist.
Was ist Individuelle Förderung innerhalb eines Schulsystems, in dem Kinder des gleichen Jahrganges – oder auch gerade nicht – in Gruppen von 20 bis 30 Kindern und in einem seit Jahrzehnten nicht hinterfragten Zeit- und Fachraster mit einer Taktzeit von 45 Minuten „beschult“ werden?
Individuelle Förderung muss bedeuten, dass der Lehrer Motiv und Gelegenheit hat, auf das Individuum zu schauen.
Er muss das Gefühl und die Gelegenheit haben, dies ohne Schaden und Benachteiligung anderen Kindern gegenüber tun zu können.
Der Lehrer muss das Gefühl haben, sich solch luxuriöse Situationen leisten zu können.
Der Lehrer muss das Gefühl haben, durch diesen Anspruch nicht überfordert zu werden. Er muss bei der Reflexion seines Tuns ehrlich bleiben können.
Er muss scheitern dürfen. (Schlie&lich scheitern auch Spitzenpolitiker, Vorstandsvorsitzende, ärzte etc. ).
Unterricht – und natürlich auch individuelle Förderung -misslingt, gelegentlich, das geschah und  geschieht. Misslingen kann man nicht per Erlass  verbieten. Erfolg kann man nicht anordnen.

Solange es Schulen gibt, konnten niemals alle Kinder in einer Klasse zu einem Zeitpunkt X Brüche gleichnamig machen.
Immer gab es Kinder, die ihren Nachbarn (Liebes-) Briefe geschrieben haben, immer gab es Kinder, die in Sorge um Mutter waren, immer gab es Kinder, die verliebt oder verlassen waren und die deshalb „mit ihren Gedanken woanders waren“.
Wie müssen Situationen aussehen, in denen auf Grund realistischer Erwartungen individuell erfolgreich gefördert wird?

Individuelle Förderung verändert den Ungang mit Zeit, Lernzeit und Lehrzeit. Manche Kinder brauchen für die erste erfolgreiche Lautsynthese 2 Wochen, manche Kinder brauchen dafür 2 Jahre. Diese 2 Jahre lassen sich auch nicht annähernd durch geschickte Lehreraktion auf den Zeitraum von 2 Wochen verkürzen.

Nach wie vor sieht z.B. die Lehrerausbildung implizit vor, dass sich  innerhalb des Zeitraumes von 45 Minuten bei einer Gruppe von Kindern bei jedem einzelnen Kind Wissens- und Kompetenzerweiterungen durch gezieltes pädagogisches Handeln herbeiführen lassen.
Nach wie vor impliziert jeder Stundenplan einer weiterführenden Schule,  dass im genannten 45 Minuten Takt der Bildungsstandard einer Lerngruppe von ca. 30 Kindern um genau den Inhalt erweitert wird, der im Klassenbuch nachträglich vom entsprechenden Fachlehrer notiert wurde (Englisch: Personalpronomen, Religion: Schuld, Physik: Spezifisches Gewicht).
Diese mechanische Perspektive auf die Welt der Kinder und die Welt des Lernens geht bis heute davon aus, dass alles, was den Mund des Lehrers verlässt, sich in den Köpfen der Kinder abbildet.

Lehrer-Output = Schüler-Input

Dass dies nie so war, wissen alle, die jemals eine Schule besucht haben.
Als Eltern raten sie ihren Kindern dennoch, „im Unterricht aufzupassen“.
Versagt das Bildungssystem offensichtlich, z.B. in dem Moment, in dem eine Klassenarbeit mit einem zu hohen Anteil „nicht ausreichender Leistungen“ endet,  berufen sich Lehrer gerne auf ihren Eintrag ins Klassenbuch: „Haben wir doch behandelt, habe ich euch extra drauf hingewiesen, kommt in der nächsten Arbeit vor“.

Individuelle Förderung lässt den Blick auf Kevin, Susi, Lisa, Serkan ruhen und fragt: Wer sind die? Was können die? Was brauchen die?

Kinder müssen weg vom „Schwächen verbergen“ und hin zum „Schwächen zeigen“ kommen.
Dafür brauchen sie Vertrauen und eine optimistische Einschätzung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten.

Die Alltagssituation in einer Schulklasse muss es ermöglichen, dass sich der Lehrer einzelnen Kindern zuwendet, ohne dass sich die restlichen Kinder verlassen, hilflos und unbeobachtet fühlen. Sie müssen in erträglicher Lautstärke unabhängig vom Lehrer handeln, gemä& eines in der Klasse gültigen Planes, der allen bekannt und der anerkannt ist.
Für die Gestalt diese Planes gibt es unterschiedliche Modelle.
Allen Modellen ist gemeinsam, dass sie für die Kinder ein Handlungskontinuum darstellen, in dem sie sich – möglichst täglich für einen wohldefinierten Zeitraum -  wiederfinden, das ihnen vertraut und angenehm ist, das ihnen eine Orientierung durch lösbare Aufgaben gibt, das individuelle Pausen und Auszeiten ermöglicht und das Kinder selbstständig werden lässt, in dem Sinne, dass ihr Handeln und Lernen – zumindest sequenziell – lehrerunabhängig wird.

Für die Gestaltung solcher Situationen kann man auf bekannte Unterrichtsformen zurückgreifen:
Projektstunden, in denen alle Kinder – möglicherweise reduziert um diejenigen Kinder, mit denen sich der Lehrer in einem vertraulichen Dialog befindet,(dies gilt natürlich auch für alle folgenden Unterrichtsformen) – Aufgaben und Handlungen erfüllen, die einem übergeordneten Tages-, Wochen-, Monats-, Jahresthema unterstehen.
Freiarbeitsphasen, in denen sich die Kinder mit dem vorhanden Freiarbeitsmaterial in der Klasse auseinandersetzen.
Wochenplanarbeit, in der die Kinder ein vom Lehrer gegebenes Aufgabenset in selbstgewählter Reihenfolge und in selbstgewähltem Tempo mit selbstgewählten Partnern innerhalb einer Woche abarbeiten.
Umfang und Struktur dieser Arbeitsphasen sind stark von der Personal- und Raumsituation einer Schule abhängig.
Hier kann man nur das tun, was man tun kann und was innerhalb eines Kollegiums konsensfähig ist, so es denn des Konsenses bedarf.
Solche Situationen zu etablieren und ihnen Dauerhaftigkeit zu verleihen, ist harte Arbeit.
Einmal gefällt, verlangt diese Entscheidung möglicherweise einen täglich neuen Kampf um ihre Durchsetzung.
Dennoch lohnt es sich.
Erfahrungsgemä& führt einen Lehrer eine solche Entscheidung zu der selbstquälenden Frage: Was tu ich hier eigentlich?
Das  traditionelle Verständnis von Unterricht – s.o. – suggeriert die Vorstellung von weitestgehender Kontrolle des Lehrers über die Lernprozesse seiner Klasse. Diese maximale Kontrolle ist nicht möglich und auch nicht unbedingt wünschenswert.

Im Kontext dieses Umdenkens sind zwei Begriffe aufgetaucht, bzw. in die pädagogische Praxis ausgegeben worden, mit deren Hilfe die erkannten Defizite erkannt und reduziert werden sollen:
Evaluation:
Zwei Faktoren der Evaluation machen sie selbst problematisch:
1.        Wer evaluiert?
Wenn der handelnde Lehrer bzw. die handelnde Schule sein/ihr eigenes Tun evaluiert, muss man begründete Zweifel an der Aufrichtigkeit und Objektivität seiner/ihrer Ziele und Methoden haben, denn: Wer hat schon Interesse daran, sein eigenes Wirken im Nachhinein objektiv und für alle anderen sichtbar als gescheitert zu bewerten?
Welche Evaluation geht also „schlecht aus“?
Für den Fall, dass Au&enstehende evaluieren, stellt sich das durchaus berechtigte Misstrauen ein, dass besagte Au&enstehende nach Dingen fragen, die nicht oder nicht so Elemente des vorausgegangenen Lernprozesses waren und dass analog dazu explizite Lernfortschritte von Kindern gemacht wurden, nach denen aber in der Evaluation  gar nicht gefragt oder gesucht wurde.
Last not least stellt sich die Frage, wie etwa Erfolge in der Reduktion von Sprechangst, von Versagensängsten im Leseprozess oder ähnlich Emotionales, aber durchaus Wirksames objektiv erfasst werden können.
Und:
2.        Woran misst die Evaluation?
Misst sie an einem statistischen Erwartungswert hinsichtlich einer Teilleistung von Kindern oder – nehmen wir den Begriff der individuellen Förderung noch einmal ernst – an individuellen Veränderungen eines Kindes hinsichtlich einer wohldefinierten Teilleistung?  
Die hier genannten Bedenken richten sich natürlich in erster Linie gegen Evaluationen, die in der Schulhierarchie nach „oben“ weitergereicht werden müssen;  Evaluationen, die Lehrer/Schulen für sich selbst durchführen, unterliegen ja keinem Erfolgszwang und erlauben daher ehrliche, ungeschönte  Aussagen.

Förderplan:
Förderplan ist zunächst als Begriff aufgetaucht. Daraufhin bemühen sich nun viele engagierte Schulen und Lehrer, diesem Begriff einen allgemein anerkannten Inhalt zu geben.
ähnlich scheint der Begriff der „Lernstudios“ generiert worden zu sein.
Veränderungen beginnen auf der Wortebene, in der Hoffnung, bzw. mit der unausgesprochenen Aufforderung, diese nachträglich mit Inhalt zu füllen.

Eine – offengestanden – nicht sehr gründliche Internetrecherche zum Stichwort „Förderplan“ bringt sehr Unterschiedliches zu Tage. Nichts davon sieht so aus, als hätte es das Zeug zum „allgemein anerkannten Begriff“.

Ein gleich zu Beginn dieses Textes genannter Verdacht scheint sich aber hier neuerlich zu bestätigen:
Die Vorstellung eines Förderplanes, bzw. die Vorstellung 30 Förderpläne für 30 Kinder der 2b oder der 4a rufen erneut das Bild des Hauslehrers wach, der für seinen einzigen Schützling einen Plan aufstellt, der genau die „Lernausgangslage“ beschreibt, ein Ziel formuliert und um alle nötigen Zwischen(lern)schritte wei&, die zur Erreichung des Zieles notwendig sind.
Dieses Vorgehen wird dann einfach auf Gruppenstärke 30 hochgerechnet.
Hier offenbaren sich Allmachtsphantasien.
Mindestens ein Nobelpreis müsste an den Autor solcher Förderpläne gehen.
Alle Lehrer beobachten – verständlicherweise nicht immer mit der gelassenen Objektivität eines Wissenschaftlers – , dass Lernprozesse nicht immer linear verlaufen, sondern auch, wenn nicht sogar oft, diskontinuierlich.
Auf Level A folgt im Erkenntnisprozess nicht automatisch Level B, und weiteres Lernen ist nicht immer an erfolgreiches Lernen auf dem vorangegangenen Niveau angewiesen.
Zum Glück wei& das Gehirn eines jeden Kindes, welche Informationen es aktuell zur Verarbeitung benutzen kann und welche möglicherweise zwischengelagert oder u.U. ausgeschieden werden müssen.